Krefeld. Die Abiturienten des Abiturjahrgangs 1955 gehörten zu den ersten Schülern, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am Moltke-Gymnasium eingeschult wurden. Der Anfang war nicht leicht, doch die Ehemaligen blicken amüsiert zurück.
Otmar Sprothen - RP - 10.03.2015

Vor zehn Jahren war die Abiturentia von 1955 des Moltke-Gymnasiums in großer Zahl zur Feier des fünfzigjährigen Abiturs zusammengetroffen. Zum "Sechzigjährigen" konnte Moltke-Schulleiter Udo Rademacher auf der Freitreppe des bald hundertjährigen Biebricher-Baus noch neun der ehemals 25 Köpfe zählenden Abiturklasse der Geburtsjahrgänge 1933 bis 1936 begrüßen. "Ein Teil unserer Mitschüler ist leider verstorben, anderen war die Reise nach Krefeld zu beschwerlich", bedauerte Organisator Klaus-Ulrich Düwell.

Dennoch geriet das Treffen zu einem lebhaften Austausch von Erinnerungen. "Im Grunde waren wir damals Kleinkriminelle", erinnert sich Heinz-Gerd Janssen an die Zeit der Einschulung. "Zu kaufen gab es im zerstörten Krefeld fast nichts und wir Kinder mussten mithelfen, unsere Familien durchzubringen. Wir haben geklaut, organisiert und gehamstert, was man brauchen oder tauschen konnte."

Da der Einschulungsjahrgang 1945 wegen der vielen Luftalarme und alliierten Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung nicht mehr geregelt beschult werden konnte, wurde er mit dem Jahrgang 1946 einfach zusammengelegt. Die Vertreibung der Ostdeutschen tat ein Übriges. "Mich hat der Krieg drei Jahre gekostet", erinnert sich einer der Abiturienten, der erst 1947 in die Schule kam.

Das Moltke-Gebäude wies schwere Beschädigungen auf und konnte nur sehr eingeschränkt für einen Unterricht genutzt werden. Das Dach eines Flügels war abgedeckt, einen Großteil des Fensterglases hatte der von den Luftminen ausgelöste Druck zerstört, der Teich und die Sitzrondelle waren zerstört, die das Geländer tragenden Steinkugeln waren auf dem Gelände überall verstreut. Durch die aufgerissene Gipsverkleidung der Säulen im Inneren des Gebäudes hätte man nach unten hindurchsehen können. Dies nutzten die Schüler aus und ließen an einem langen Seil einen Wecker nach unten, der den Unterricht vorzeitig beendete.

Die Stadt hatte anfangs in der alten Weberschule an der Lewerentzstraße für Moltke- und Fichteschüler einen Schichtunterricht eingerichtet. Wer das Gymnasium besuchen wollte, musste eine Aufnahmeprüfung in den Kernfächern ablegen. Es gab dreimal im Schuljahr Zeugnisse und die Eltern mussten Schulgeld bezahlen. Das Wort eines Lehrers galt viel, und eine Ohrfeige, die er verteilte, zog mitunter eine weitere häusliche Strafe nach sich.

"Damals war das Gymnasium eine Stätte höherer Bildung", erinnerte sich Klaus-Dieter Gottschalk. "Weniger als fünf Prozent der Schüler wurden dort aufgenommen und für den, der es bis zum Abitur schaffte, war klar, dass er studieren würde." Dies sei heute ganz anders, erklärte Moltke-Direktor Rademacher, ein großer Teil der Abiturienten würde heute in eine Ausbildung wechseln. Das Gymnasium sei eine Schule unter vielen anderen Schultypen, die zum Abitur führten.

Nach dem Besuch des Lego-Raumes, in dem eine Schüler-AG maßstabsgetreue Häusermodelle baut, erklärte er den wissbegierigen Herren die Funktion einer elektronischen Tafel, die das selbstständige Lernen und Üben der Schüler unterstützt. "So etwas hätten wir früher auch gebrauchen können", bemerkte Düwell. "Damals gab es zu wenig Lehrer. Wir hatten aber fünf Direktoren: Einen richtigen und vier abgesägte Nazi-Parteimitglieder." Schulbücher gab es nur wenige.

Die Besatzer zensierten im ehemaligen Nazideutschland das Schrifttum, mit dem die Schüler in Berührung kommen sollten. So musste sich Werner Rocker mit seinem Banknachbarn eine Latein-Grammatik teilen. Da der Mitschüler in Hüls wohnte, fand die Übergabe des Buches meist gegen 16 Uhr am Ostwall statt, wenn der Nebenmann ausgelernt hatte. Für Düwell bedeutete dies erhebliche Fußwege. Klaus-Dieter Gottschalk erinnert sich: "Wir hatten gemischte Klassen, in denen ältere Frontoffiziere waren, die das Abitur nachholen wollten. Für diese gab es Deutschthemen wie "Fluch und Segen der Atombombe"."

Viele der Lehrer trugen Spitznamen. Sie hießen nach persönlichen Eigenheiten und Auffälligkeiten "Pudding", "D-Zug", "Kuhzahn" und "Gandhi". Rocker erinnerte sich an Deutschlehrer "Parvus": "Unsere Klasse besuchten die Inrather Bauernsöhne Hans und Heini R.. Bei der Schilderung eines ersten Eindrucks der Deutschaufsätze habe Parvus laut über Heini geklagt, der mal wieder was Grausiges zusammengeschrieben habe.

Dann habe sich Parvus zu den beiden Brüdern hinunter gebeugt und geflüstert: Ich brauche noch drei Liter Milch. Die nächste Stunde habe dann gezeigt, dass Heinis Aufsatz doch noch schwach ausreichend gewesen sei. Das eine oder andere Original gebe es auch unter den heutigen Lehrern, sei aber nicht mehr so legendenbildend, da die heutige Schule nicht mehr den damaligen Charakter einer Anstalt besäße, erläuterte Moltke-Direktor Rademacher.

Die "Sechziger"-Abiturienten haben als Notar, Rechtsanwalt, Schulleiter, Universitätsprofessor, Lehrer, Physiker und Leiter der Ausbildungsschule des Deutschen Wetterdienstes gearbeitet. Für alle sprach Organisator Düwell: "Wir hatten eine schwierige Schulzeit, haben aber dennoch eine Menge Spaß auf der Schule gehabt."

Moltke-Direx Rademacher nahm die Erzählfreude der alten Herren zum Anlass, ihre Erlebnisse in einem Beitrag zur Festschrift zu schildern, die anlässlich der Hundertjahrfeier des "schönsten Schulgebäudes Krefelds" zusammengestellt werden soll.