Die wilden Jahre der Pubertät

Das Moltke-Forum befasst sich mit dem besonders intensiven Lebensabschnitt zwischen Begeisterung und Verzweiflung.
Christina Schulte - Westdeutsche Zeitung (WZ) - 23.10.2014

Krefeld. In der ziemlich vollen Aula des Moltke-Gymnasiums haben sich Lehrer, Eltern, Schüler und Ehemalige eingefunden: Beim 78. Moltke-Forum ging es um die Pubertät. Der Erlanger Professor Ralph Dawirs sprach kenntnisreich und mit Humor zum Thema „Endlich in der Pubertät – Vom Sinn der wilden Jahre“.

„Es ist gut, dieses Thema mal wieder in den Blick zu bekommen“, sagte der neue Schuldirektor Udo Rademacher. Im Internet habe er viel über die Verzweiflung und Betroffenheit der Eltern gefunden und sich gefragt: „Wo ist die Perspektive der Kinder?“ Für deren Position in der Zeit der Pubertät, besonders aber für die biologischen Abläufe ist Dawirs Fachmann. Er ist Neurobiologe, Meeresforscher, Zoologe, Hirnforscher und Autor grundlegender Arbeiten zur Entwicklung des Gehirns und des Verhaltens. In seinem Vortrag erläuterte er mit Illustrationen, Dias und vielen humorigen Einsprengseln die Entwicklung jedes einzelnen Menschen aus der Geschichte der Evolution heraus.

Aus dem netten Lockenkopf wird ein pickliger Jüngling

 

Den Beginn der Pubertät schilderte er so: „Abends geht ein herziger Lockenkopf ins Bett, und am morgen steht ein pickliger Jüngling vor den Eltern.“ Aber genau diese Veränderung des jungen Menschen ist von der Natur so vorgesehen: „In seiner Entwicklung hat der Mensch in jedem Stadium das, was er braucht“, sagt der Fachmann. Neben motorischer Fitness erwirbt das Kind bis zum sechsten oder siebten Jahr noch emotionale Stabilität, soziale Kompetenz und kognitive Kreativität. Bei unseren Vorfahren, vor zwei Millionen Jahren, setzte zu diesem Punkt die Pubertät ein. Das hat die Evolution bei uns auf ein paar Jahre später verschoben.

Die dann einsetzende Veränderung hat ein klares Ziel: Abkopplung von der vorigen Generation, Eigenständigkeit. Die pubertären Qualitäten seien der Mut zu riskantem Verhalten – gepaart mit Humor, der als Überlebensstrategie Verluste ertragen hilft – Begeisterungsfähigkeit, Leichtsinn und die Sehnsucht nach emotionaler Grenzerfahrung. Diese Mischung bezeichnet Dawirs als „Bioreaktor für zukunftsweisende Innovation“, denn die Evolution ist darauf ausgerichtet, dass die Jungen das Ruder übernehmen und die Alten ausscheiden.

Dass gerade das nicht mehr so ist, hält Dawirs für ein großes Problem unserer Gesellschaft. Die biologische Entwicklung gibt den jungen Leuten alle Chancen, kreativ und mutig die Fäden in die Hand zu nehmen, aber die Gesellschaft hat noch mindestens zwei Generationen davor gesetzt. „Die Herausforderung: Wir müssen die Jungen mitmachen lassen“, sagt Ralph Dawirs.