Die Bedrohungen liberaler Werte heute - Lehren aus der Geschichte

Das 89. Moltke-Forum am 8. November 2023.

Gast: Herr Prof. Dr. Magnus Brechtken, stv. Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, München/Berlin.

Thema des Vortrags: Die Bedrohungen liberaler Werte heute - Lehren aus der Geschichte

Zäumen wir "das Pferd von hinten auf": Am Ende seines gut achtzigminütigen Vortrags machte Brechtken deutlich, durch welche historisch bedingten "Lehren" man die liberalen Werte aufrechterhalten könne. Der Siegeszug der Demokratie seit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten im Jahre 1776 sei vor allem der Aufklärung - hier unterstrich Brechtken deren Wert durch einen Rekurs auf den Philosophen Kant und sein Diktum vom <Sapere aude> (1784), was nichts anderes bedeutet, als dass man sich mutig seines eigenen Verstandes bedienen solle - und einem reflexiven Erinnern des Einzelnen zu verdanken, wobei man sich eben stets vor Augen führen müsse, was man mit der Demokratisierung der Gesellschaften gewonnen habe: "Kooperation und Wettbewerb statt Konfrontation und Krieg", "Europa als Errungenschaft", "Fortschritt durch Rationalität und Teilhabe".

       In einem Parforceritt durch die Geschichte der letzten 250 Jahre mit der besonderen Blickrichtung auf Europa versuchte Brechtken an verschiedenen historischen Wegmarken aufzuzeigen, wessen wir uns zu vergewissern hätten, wenn wir gewillt seien, die richtigen "Lehren aus der Geschichte" zu ziehen. Das Europa des 19. Jhs. war u.a. durch nationalstaatliche Rivalitäten, Zugewinndenken auf Kosten anderer, Gewalt als vermeintlich legitimes politisches Mittel und dementsprechend durch eine Fülle kriegerischer Auseinandersetzungen geprägt. Krieg war für die vor 1945 Geborenen eine "Alltagserfahrung". Gleichwohl entwickelte sich seit der Unahängigkeitserklärung der USA (1776) peu à peu ein neues Menschenbild, etwa der Anspruch auf Gleichheit oder der der Teilhabe an politischer Partizipation, besonders ausgeprägt bereits im Verfassungsentwurf der '48-Revolution und seiner Menschenrechtsdeklaration. Die Zeit war aber noch nicht reif dafür.

       Das Ende des brutalen 1. Weltkrieges (1914-1918) zeitigte immerhin das Ende der Monarchie in Deutschland, die Einführung des Frauenwahlrechts sowie des 8-Stunden-Tages, aber es herrschte nach wie vor ein Obrigkeitsdenken in breiten Schichten der Bevölkerung, das die junge Weimarer Republik enorm belastete. Die mangelnde Reflexion über die Gründe für den verlorenen Weltkrieg führten zu dem "Kurzschluss", das politische demokratische System dafür verantwortlich zu machen; andererseits glaubte man, nur über das Mächtigwerden des Nationalen könne man wieder an die vermeintlich großen Zeiten vor dem Weltkrieg anknüpfen.      

       In den Zwanziger Jahren stellten sich quasi drei politische Systeme zur "Wahl": ein faschistisch-rassistisches, ein diktatorisch-planwirtschaftliches und ein demokratisch-marktwirtschaftliches. Spätestens mit dem Ende des 2. Weltkrieges (7./8.Mai 1945) hätte sich, so Brechtken, die erste Systemoption in ihrer ganzen Absurdität endgültig offenbart. Der "Zweikampf" zwischen den beiden anderen Varianten sei letztlich im Jahre 1989 geendet. Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" vom 10.12.1948 sei ein Meilenstein auf dem Weg zu einer gelebten Demokratie in Deutschland gewesen. Der sich dann in Westeuropa entwickelnde Europa-Gedanke basierte vor allem auf dem Gedanken, dem anderen nichts mehr wegzunehmen, sondern der Wettbewerb wurde auf eine "rationale, rechtliche Basis" gestellt und damit "kanalisiert"(sic!). In den folgenden sechs Jahrzehnten lebte Europa eine "Realpolitik" in durch drei Säulen institutionalisierter Form (EG, GASP und PJZS).       

       Die ab den neunziger Jahren entstandene Globalisierung habe, bei aller Kritik, zu einer wirtschaftlichen Prosperität vieler Staaten geführt. In der systemischen Auseinandersetzung zeige sich, dass die demokratischen Gesellschaften, was ihre Wirtschaftskraft anbelange, den autokratischen, wie z.B. Russland, um Längen überlegen seien.

       Die zentralen Fragen seiner Überlegungen bzgl. des Themas seien die: Gibt es aus dem Verlauf der Geschichte Erkenntnisse, mit denen wir für unsere Gesellschaft heute etwas anfangen können, gibt es diese/eine Art von Fortschritt, oder ist das alles nur Illusion, und worin, wenn es etwas wie Fortschritt gibt, liegt der und was bedeutet das für uns?

       Anhand einer Filmsequenz des Historikers Hans Rosling zeigte Brechtken, dass es messbare Parameter dafür gebe, wie sich über Lebenserwartung, Einkommen, wirtschaftliche und technische Entwicklung das Leben der Menschen entwickelt habe. Es gelte für uns, sich zu vergewissern, wie die eigenen Vorfahren gelebt hätten und wie sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse seitdem entwickelt hätten und welche Art von politischem System dafür verantwortlich zeichne: Menschenrechte und Partizipation seien unverzichtbare Grundlagen einer/der Demokratie.

      In der anschließenden Diskussion ging es u.a. um den schlechten Zustand der Welt gegenwärtig und wie das mit der These vom politischen Fortschritt noch vereinbar sei? Brechtken meinte, die demokratischen Gesellschaften müssten die systemische Auseinandersetzung offensiv annehmen und sich engagiert der Diskussion über die Frage, ob Demokratie oder Autokratie das geeignetere politische System sei, stellen. Für das <Paradies auf Erden> seien allein wir selbst verantwortlich. Unseren Alltag erträglich zu machen, sei in einer offenen, freien Gesellschaft mit rechtschaffenen Prinzipien sehr viel erträglicher zu organsieren als in einer autoritär geführten. Auch das Problem des Klimawandels werde in offenen Gesellschaften nicht allein diskutiert, sondern es würden durch die in der Regel transparenten Diskussionen Wege aufgezeichnet, die ein gemeinsames Vorgehen erleichterten. Es sei im Übrigen gerade ein demokratischer Fortschritt, dass alle Menschen sich mit gleicher Stimme an einem Projekt <Wie bekommen wir den Klimawandel hin?> beteiligen könnten. Aber: Jeder Einzelne müsse sich auch seiner Verantwortung in Form einer aktiven Beteiligung bewusst sein/werden! Auf die Frage einer Schülerin, wie Brechtken den relativ hohen Stimmenanteil einer Partei wie der AFD bewerte, deren Denken doch keineswegs fortschrittlich zu charakterisieren sei, verwies er darauf, dass es 70-80% der Bevölkerung seien, die für eine offene, freiheitliche Gesellschaft einträten, dies aber auch argumentativ tun/umsetzen müssten.              

In seinem Schlussplädoyer forderte Brechtken dazu auf, reale Diskussionen/Auseinandersetzungen mit realen Menschen, mit realen Argumenten über reale Themen und überprüfbare Fakten zu führen. Man möge sich nicht über TikTok informieren, sondern per Tageszeitung. Soziale Medien förderten keine konstruktive Auseinandersetzung: Reale Diskussionen bräuchten reale Menschen! Bis 1918 habe in <Deutschland> die Tradition gegolten: Der Landesherr verschafft mir Frieden und Ruhe, und ich trete dafür mein Recht auf politische Beteiligung ab. Es bedürfe aber einer mündigen Auseinandersetzung über das Selbstbewusstein einer demokratischen Gesellschaft, um nicht in einer Krisensituation anfällig zu sein/werden für autoritäre Versuchungen. -

Lang anhaltender Beifall für eine - im ersten Teil - konzise, sehr anspruchsvolle, gleichwohl stets verständliche Vorlesung zur deutschen Geschichte von 1789 bis in die Gegenwart.

Lang anhaltender Beifall für eine konzise, sehr anspruchsvolle, gleichwohl stets verständliche Vorlesung im besten Stil zur deutschen Geschichte von 1789 bis in die Gegenwart und die Aufgeschlossenheit, sich sachlich, konstruktiv und argumentativ mit den unterschiedlichen Fragen auseinanderzusetzen. 

Wolfgang van Randenborgh